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Die Pommersche Zeitung
vom 7. Januar 2012 - Jahrgang 62 – Seite 8
Nicht das kleinste Stück Brot
Meine Jugenderinnerungen an Gans, Kreis Lauenburg, am Lebamoor
Ich bin am 8. August 1929 in Gans im
Kreis Lauenburg geboren. Mit fünf
Jahren besuchte ich in Gans die Schule,
aus der ich mit 13 Jahren entlassen
wurde. In den letzten drei Schuljahren
hatten wir nur drei Mal in der Woche
Unterricht, da unser Lehrer Herr Knitt
an die polnische Grenze versetzt wur-
de. Als Ersatz kam ein Lehrer aus
Belgrad. Einmal haben mein Freund
Helmut und ich uns beim Schlittenfah-
ren an einen mit Kartoffeln beladenen
Pferdeschlitten angehängt. Von diesem
sind ca. 25 kg Kartoffeln auf den Weg
gefallen was natürlich dem Lehrer
gesagt wurde. Darauf mussten wir am
nächsten Tag in der Schule nach vorne
kommen und der Lehrer hielt uns einen
Vortrag – durch uns würde der Krieg
100 Tage länger dauern und wir hätten
27 Soldaten das Leben genommen – als
wir nur grinsten, wurde uns der Hin-
tern mit dem Stock bearbeitet. 14 Tage
vor unserer Schulentlassung ist der
Lehrer als Soldat eingezogen worden
und leider hat er seine Heimat nicht
mehr wieder gesehen.
Nach der Schulzeit von 1943 bis 1945
habe ich auf dem elterlichen Hof gear-
beitet. Unser Haus stand an der Straße
zum Lebamoor wo sich am Anfang der
Wiesen ein RAD-Lager befand. Anfang
Januar 1945 gingen viele Leute Rich-
tung Moor von denen einer sagte, dass
er Durst habe. Ich holte einen Eimer
mit Wasser und eine Tasse woraufhin
mich ein Wachmann fragte: „Willst du
auch zu denen?“ Als ich nachfragte
was das für Leute sind, bekam ich zur
Antwort: „Das sind KZ-Häftlinge, die
brauchen nichts“. Etwa 30 m weiter
kam der nächste Wachmann der mir
sagte: „Stell den Eimer und die Tasse
an die Straße und geh weg“. Die Leute
wurden im RAD-Lager untergebracht.
In einer Baracke wurden die Koffer der
im Einsatz befindlichen Jungen des
Arbeitsdienstes gelagert. Jede Stunde
musste einer um die Baracke gehen und
kontrollieren, ob noch alles verschlos-
sen war. Auch ich bin als 15-jähriger
mit vier anderen fünf Mal dazu einge-
teilt worden. Uns wurde verboten mit
den Leuten zu sprechen und außerdem
hätten sie Läuse.
Da wir als Kinder dort oft spielten,
habe ich mich im Lager umgesehen und
kam dabei an einer Krankenbaracke
vorbei, an der ein Wachmann mit einer
Rotkreuzbinde am Arm stand. Auf
mein „Guten Morgen“ antwortete er
auch mit „Guten Morgen“ und so
kamen wir ins Gespräch. Eines Tages
sagte er: „Ich bin der Emil“ und ich
antwortete: „Ich bin der Siegfried“.
Den letzten Tag vergesse ich nie – Ich
nehme das Gewehr zum Rundgang um
die Baracke und gehe raus, da steht ein
Häftling vor der Tür und fragt: „Kann
ich den Kommandanten sprechen?“.
Nachdem ich den Kommandanten ge-
holt habe, fällt der Häftling auf die
Knie und bittet um ein Stückchen Brot.
„Da hast du Brot“ sagt der Komman-
dant und tritt ihm dabei in die Rippen,
lässt ihn liegen und geht wieder rein.
Ich laufe zum Emil und erzähle ihm
was der Kommandant gemacht hat.
„Dieses Schwein“ sagte Emil „der
weiß doch, dass die Russen schon in
Stolp sind“. Der Emil wusste mehr als
ich. In dieser Nacht sind sie mit allen
die laufen konnten wieder Richtung
Osten – von wo sie auch gekommen
waren – gezogen
Die zurückgelassenen Kranken wurden
gebadet und auf drei Häuser verteilt,
viele hatten Typhus. Jeden Morgen
wurden von Emil zwei Mann eingeteilt,
die von Haus zu Haus gehen mussten
um nachzusehen ob einer verstorben
war. Ich habe viele sterben sehen. In
einem Haus in der Nachbarschaft wur-
den in den Räumen aus Brettern von
Wand zu Wand Pritschen für die Kran-
ken gezimmert - ein Raum für die
weiblichen und einer für die männli-
chen Typhuskranken. Auch meine
Eltern und Geschwister sowie ich wa-
ren an Typhus erkrankt.
Da ich als erster der Familie wieder
gesund wurde, bin ich in das Frauen-
zimmer gegangen um nach meiner
Mutter und den Schwestern zu schauen.
Die Kleinste – Christel – lag bei der
Mutter. Ich bat die pflegenden Frauen
„Legt Christel zu Grete und Käthe, die
Mama stirbt. Bei uns im Haus sind
Häftlinge, ich gehe zu Wolstäts“. Eine
Stunde später kam jemand und sagt:
„Du hattest Recht, deine Mutter ist
tot“. Sie ist mit 2 Männern in einem
Grab – an der Außenseite – beerdigt
worden. Nachdem mein Vater im Juli
1945 auch verstarb, habe ich mit Herrn
Fick das Grab neben der Mutter ausge-
hoben und ihn dort beerdigt. Auch
meine älteste Schwester Grete haben
wir nach ihrem Tod im März 1946
danebengelegt – so sind alle drei im
Tod wieder zusammen. Meinem Vater
habe ich auf dem Sterbebett verspro-
chen, als Letzter das Dorf zu verlassen.
Anfang Mai wurde alles, was die Rus-
sen noch brauchen konnten, auf Wagen
geladen und mitgenommen. Auch 20
Kühe sollten mit und ich hatte das
Pech, mit drei weiteren Jungen, die
Tiere nach Stolp treiben zu müssen.
Dort kamen wir in ein großes Haus in
dem wir ein Radio fanden. Es spielte
noch und es wurde eine Sondermeldung
gebracht: „Der Krieg ist zu Ende!“ Ein
Soldat kam und fragte uns, warum wir
so fröhlich seien. Wir sagten ihm, dass
der Krieg zu Ende sei. Nachdem auch
er die Sondermeldung im Radio gehört
hat, öffnet er das Fenster, schießt in die
Luft und schreit: „Krieg zu Ende,
Krieg zu Ende“. Danach fragt er, ob er
das Radio mitnehmen kann zu seinem
Chef, der noch nichts über das Kriegs-
ende weiß.
Von Stolp brauchten wir keine Kühe
mehr treiben. Jetzt bekamen wir vier
jeder zwei Pferde und einen Wagen
womit wir bis kurz vor Stettin fuhren.
Hier wurden die Wagen abgeladen und
am nächsten Tag fuhr ein Soldat mit
uns bis Köslin. Am folgenden Morgen
erhielten wir ein Dokument, zwei Pfer-
de und einen Wagen und damit durften
wir nach Hause fahren.
Am 27. September 1947 wurde ich von
den Polen ausgewiesen und landete in
Thüringen. Dort habe ich zwei Monate
bei einem Bauern gearbeitet bis ich mit
der Post eine Aufforderung zum Ar-
beitseinsatz in Aue erhielt. Glücklicher-
weise hatte einen Tag vorher der Bru-
der meines Vaters geschrieben und ich
machte mich sofort auf den Weg ins
Rheinland. Zuerst habe ich auch hier
beim Bauern gearbeitet, doch ab März
1951 ging ich für die nächsten 38 Jahre
im Steinbruch arbeiten.
Karneval 1949 habe ich meine Frau das
erste Mal gesehen; 1954 haben wir
geheiratet. Es waren schöne Jahre und
wir sind sechs Mal in der Heimat ge-
wesen. Auch den Kindern haben wir
sie gezeigt. Leider ist meine Frau am
15. September 2011 verstorben.
Siegfried Globke
Finkenweg 3 - 51789 Lindlar
im November 2011
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